Was ist ein Kultur-Salon?
Sie fällt aus dem Rahmen in Loccums Ortsbild, die Bibliothek von Hella und Bert Schwarz. Vier Säulen tragen den Giebel des Daches, klassizistische Strenge bestimmt den Bau. Was das Ehepaar sich nach historischen Vorbildern bauen ließ, nutzt es für weitaus mehr als geordneten Bücher-Stauraum und eigene bibliophile Neigungen. Sechs- bis achtmal pro Jahr wird dieser Raum zum Kultur-Salon. Ein altes Konzept, das einige Loccumer neu gedacht haben.
„Die Bezeichnung ‚Kultur-Salon‘ fand ich anfangs überheblich“, sagt Bert Schwarz zur Teestunde in der Diele seines Hauses. Wollten sie sich messen mit den Salons, die ab dem 18. Jahrhundert von sich reden machten und die ein Hort waren für gelehrte Gespräche, für Feinsinniges, Künstlerisches, in denen sich Intellektuelle trafen und neue Ideen geboren wurden? Das erschien ihm doch zu hoch gegriffen.
Sein Anspruch war ein anderer: Kunst und Kultur aus der näheren Umgebung entdecken, in die Bibliothek holen und sie einem Freundeskreis nahe bringen. Und das nicht in Berlin oder einer anderen Metropole, sondern auf dem platten Land, dem Kultur doch so oft abgesprochen wird.
Nicht das passende Publikum hier auf dem Land? Keine Schätze in der Umgebung, die es zu entdecken und heben gilt? Solche Argumente ließ er nicht gelten. Die Bibliothek baute er so, dass sie neben dem Platz für seine große Büchersammlung jederzeit auch zum kleinen Kulturraum umgestaltet werden kann: Mit einer Bühne im Eingangsbereich und mit Raum, in dem in drangvoller Enge auch schon mal 40 Menschen erleben können, was sich abspielt.
Doch oft kommt es anders als man denkt: Ein Schlaganfall warf ihn bald nach der Fertigstellung in allen Plänen zurück. Während er die Folgen mühsam aber stetig bekämpfte und sich ins Leben zurückrang, wurde ein anderer Loccumer aufmerksam auf den merkwürdigen tempelähnlichen Bau: Friedrich Holze, wie Schwarz Pastor von Beruf, wie er pensioniert und – noch eine Gemeinsamkeit – mit viel Liebe zu Kunst und Kultur ausgestattet.
Holze pochte an die Tür, bekam Einlass und begann, seine Idee vorzustellen. Die eines Kultur-Salons, der von einer kleinen Gruppe getragen und organisiert wird und der es obliegt, Einladungen auszusprechen.
Hella und Bert Schwarz stiegen auf den Vorschlag ein, holten mit Jörg Kalließ einen weiteren Loccumer in den Kreis – und ließen die Köpfe rauchen um ihre Idee mit Leben zu füllen.
Die erste Einladung verschickten sie für Februar 2012. Die ‚Winterreise‘, Liederzyklus von Franz Schubert, stand auf dem Programm und Hans May, ehemaliger Direktor der Evangelischen Akademie Loccum, erwies sich als Kenner auf einem überraschenden Gebiet. Nicht nur mit dem Gesangkannte er sich aus, sondern wartete auch mit viel Hintergrundwissen zu Werk und Komponist auf.
Das Titelbild der Einladungen zum Kultur-Salon.
Schon das erste Jahresprogramm spiegelt die Vielfalt dieses Kultur-Salons: Genau hingeschaut und zugehört wurde beim Spielfilm-Klassiker „Casablanca“ und beim Vortrag über den kampfstarken geistlichen Jeremias Gotthelf ebenso wie bei dem, was eine der Mitwirkenden über die Entstehung des mit einem Oscar prämierten Films „Der Fälscher“ zu sagen hatte oder auch bei der berührenden Lesung der Briefe, die Helmuth James von Moltke seiner Frau in den Tagen vor seiner Hinrichtung 1945 aus dem Gefängnis Tegel schrieb. Mit einem Abend über Jimy Hendrix als ‚Musiker hinter dem Mythos‘ setzte das Kultur-Salon-Quartett einen weiteren kontrastreichen Akzent – und zu diesem wie jenem strömten die eingeladenen Freunde herbei. Zuerst grundsätzlich neugierig auf das Konzept, später als überzeugte Wiederholungstäter.
Was ist ein Kultur-Salon?
Ein Ort mit einer einladenden und anregenden Atmosphäre.
Eine Institution für Darbietungen und Vorführungen, Lesungen oder musikalische Veranstaltungen.
Ein Raum für Erkundungen, Entdeckungen und Begegnungen.
Ein Treffpunkt für einen Austausch von Gedanken, Meinungen und Empfindungen.
Ein Experiment ohne feste Grenzen, klare Regeln und verbürgte Kontinuität.
Ein Wagnis, bei dem sich die Frage, ob es gelingen wird, immer wieder neu stellt.
Ein Abenteuer, zu dem alle eingeladen sind, die an Kultur interessiert sind, gern Neues kennenlernen oder Bekanntes neu erobern wollen und Lust haben, sich darüber mit anderen auszutauschen.
„Die Mischung macht’s“, sagt Holze – und meint damit nicht nur die bunte Themenauswahl. Für ihn ist auch der Ort ausschlaggebend: Die Veranstaltungen in der Bibliothek, inmitten der wandhohen Bücherregale auf der einen Seite. Ebenso hat es ihm und allen Gästen aber auch die Diele des Bauernhauses angetan, auf der jeder Kultur-Salon sowohl beginnt als auch endet. Der tempelähnliche Bibliotheks-Bau, bei dem sich das Ehepaar Schwarz an Entwürfen des preußischen Baumeisters Karl Friedrich Schinkel orientierte auf der einen Seite, andererseits das Gebälk eines alten niedersächsischen Bauernhauses. „Aber beides stammt aus einer Zeit!“, wirft Bert Schwarz ein. Kontrastreich – das gilt auch hierfür.
Gastlichkeit ist ein weiteres Anliegen, das sie mit ihrem Konzept verfolgen. Auf der Diele stehen Wein, Wasser, Gebäck, Dips und im Kamin brennt ein Feuer.
In Gespräche über das, was das Thema des Abends ist oder auch über Gott und die Welt, wird jeder Besucher anregend verwickelt. Holze nennt das alles zusammen ein „Geschenk des Himmels“ und Hella Schwarz schwärmt, dass sie jedes Mal dazu gelernt habe und manchmal ein Faible für Dinge entdeckt, die vorher in ihrem Leben überhaupt keine Rolle gespielt hatten.
Von der Einladungsliste haben sie gelegentlich gestrichen, wer niemals kam, haben andere, neue Bekanntschaften hinzugefügt. Ein Kreis von Freunden, die an Kultur interessiert sind, ist es immer geblieben, denn schließlich treffen sie sich in sehr privaten Räumen und das sechs- bis achtmal pro Jahr.
Einen harten Einschnitt bedeutete für den Kultur-Salon die Pandemie. Anfang 2020 stand das komplette Jahresprogramm bereits fest. Wie in vielen anderen Bereichen mussten sie alle Pläne fahren lassen. Drei Jahre dauerte es bis sie Bibliothek und Diele wieder öffneten und waren sich manches Mal nicht sicher, ob es überhaupt weitergehen könne. Etliche ihrer Gäste waren in der Zwischenzeit gestorben, andere gingen nicht mehr aus und in ihrem Kreis verabschiedete sich Jörg Kalließ aus gesundheitlichen Gründen.
Das Ende des Kultur-Salons? Oder sollten sie einen Neustart wagen?
Sie wagten es. Anfang 2023 mit einem, wie sie meinte, zunächst zaghaften versuch und kleinem Programm. Zum Ende des Jahres stellten sie erstaunt fest: Achtmal hatten sie eingeladen, vom Gesangabend mit Songs starker Frauen bis zur Lesung über „Weihnachten mit Karl May“. Und viele Gäste kamen nach wie vor und immer gerne. Die ersten Kultur-Salons für dieses Jahr sind bereits geplant.
Wem es gefallen hat – in diesem oder in anderen Jahren - wirft zum Abschied einen Schein in den dezent an der Garderobe abgelegten Hut. So müssen die Gastgeber nicht alle Kosten alleine tragen.
Und nach zwölf Jahren Kultur-Salon hat selbst Bert Schwarz sich mit diesem Namen arrangiert oder sogar angefreundet. Weil sie ihn nicht in der Tradition der Salons von einst führen, sondern ihm ihren eigenen Stempel aufgedrückt haben. Oftmals mit Erstaunen darüber, welche kulturellen Schätze sich auf dem Land heben lassen.
Januar 2024
Text: Beate Ney-Janßen
Fotos: Friedrich Holze